Neue Chinoiserie

ES WAR EINMAL – vor langer Zeit lebte in einem prächtigen Palast das Mädchen Tschang. Sie war von solcher Schönheit und Anmut, daß alle Menschen verstummten und Blumen und Tiere und selbst die Gestirne sich neigten, wenn sie sang und tanzte. Eines Tages begegnet ihr der junge Reiter Wang. Die schöne Tschang und der Reiter Wang verlieben sich. Doch die reichen und unerbittlich strengen Eltern zwingen Tschang, einen alten Fürsten zu heiraten, um ihr Reich zu vergrößern. Sie verschließen das Mädchen in einem Gefängnis-Turm mit Gittern aus fein geschnitztem Jadestein, gleich einem kostbaren Vogel in einem goldenen Käfig. Der Pfau überbringt Tschang die Nachricht vom Tod des Geliebten, der im Kerker der Eltern gefoltert wurde. Ihr Gefängnis wird zum Tränenturm. Mit der Hilfe des weißen Mondkaninchens gelingt ihr die Flucht zum Himmelsgestirn, um dort das Kraut des Lebens für ihren geliebten Wang zu finden. Doch am bitteren Ende der Geschichte muß die trauernde Tschang das Kraut des Lebens noch immer auf dem Mond suchen.
Die Märchen im alten China werden in poetischen Bildern erzählt. Wasser und Luft bilden keine Grenzen, die Handlung vollzieht sich in den Weiten des Himmels mit seinen Gestirnen oder in den Tiefen der Erde und der Meere. Geister und Feen agieren, Tiere und Pflanzen spielen mit, greifen helfend in das Geschehen ein, werden aber auch zu Bestien, zur Bedrohung und zerstörenden Gefahr. Nicht selten sind die Märchen von Grausamkeit und Unrecht gezeichnet, und finden nicht zum guten Ende.

Im Jahre 2009, während eines langen Fluges in Richtung Osten, nach Xi’an, der alten Kaiserstadt Chinas, lese ich zum ersten Mal chinesische Märchen. In dieser einst größten Stadt während der Tang-Dynastie überwältigt mich eine fremdartige und überaus kontrastreiche Wirklichkeit. In alten Tempeln und Nekropolen, in Museen und Gärten tauche ich in eine märchenhafte Welt ein. Ein Zauber umfängt die Seidenmalerei. Tore und Balken sind mit rätselhaften Bildern und Ornamenten in reichen Farben verziert. Steine sind ornamental und figürlich gestaltet. Tempelgesims, Pagodentürme, Balustraden, knorrige Kiefern und weich-schwingendes Weidengeäst kehren sich im Lotosteich um. In den Spiegelbildern werden die Märchen lebendig. Große Blätter des Lotos wiegen sich auf dem Wasser. Knospen, Blüten und Samenkapseln schwingen im Wind und beginnen zu erzählen. Gelesenes vermischt sich mit Gesehenem und Geistigem – es drängt auf das transparente zarte Chinapapier. Formen asiatischer Kunst nehme ich auf, variiere sie und verwandle sie in eigene Sprache. Die mir vertrauten Aquarellfarben verwende ich im vorsichtigen Abwägen der richtige Farb- und Wasserkonsistenz auf dem saugenden Papier. Die Bilder entstehen nicht illustrativ zu den Märchen. Sie sind von verschiedenen Szenen angeregt, sie spiegeln die Sphären der Märchen und sie verallgemeinern das Erlebte.