Verkündigung an Maria

Verkündigung an Maria

Die Verkündigung ist für mich eine Begegnung, das transzendente Ereignis von Geben und Empfangen und die mythische Vereinigung von Irdischem und Himmlischem. Es ist ein Mythos, der mit seinen Wurzeln weit in die menschliche Geschichte zurückweist und bis heute als Sinnbild fasziniert. Die Begegnung von Maria und dem Engel Gabriel ist körperlich. Ursprünglich gründet sich dieses Geschehen auf vorchristliche Vorstellungen, nach denen Sexualität in Beziehung zu spiritueller Erfahrung erlebt wird. Danach prägten zweitausend Jahre Christentum die Sündhaftigkeit von Körper und Geschlechtlichkeit, dennoch ist das körperliche und seelische Erleben in den Verkündigungsdarstellungen nicht gänzlich verdeckt.

Maria, die Irdische, die Weibliche und Gabriel, den Himmlischen, den göttlichen Ehegatten stelle ich auf je einer Bildtafel getrennt dar. Das Zusammentreffen findet Bild-übergreifend statt. Das Geschehen hebt sich so über die anschauliche Räumlichkeit hinaus.

Maria ist die Jung-Frau, dazu bestimmt, das purpurne Garn für den kostbaren Tempelvorhang, den blutroten Faden des Schicksals zu spinnen. Die Spindel entläßt unabänderlich und vorherbestimmt den Purpurfaden, in den Maria selbst verwirkt ist. Die Schlange taucht auf; Marias Beziehung zu Eva deutet sich an, Maria - die neue Eva. Der Wurm windet sich aus der Gestalt Gabriels zu den Schenkeln der Frau. In die Komposition aufgenommen wird das sich häutende Tier - Sinnbild ewiger Erneuerung.

„Eine Wolke von Tau kam auf mich herab und benetzte mich von Kopf bis Fuß.“ [1] ES kam über Maria, Blau überströmt sie. Es ist jenes nicht greifbare, entrückte Blau ihres himmlischen Umhangs, durchschimmernd leicht und bewegt. Die Frau empfängt, sie schreckt zurück und wehrt ab, sie ergibt sich und nimmt an.

Der Engel Gabriel ist in Blau mehr Erscheinung als greifbares Wesen. Der himmlische Bote überbringt die Lilie - die Blume der Reinheit, der Gnade und der Königsherrschaft.

[1] Das Bartholomäusevangelium 2, zitiert aus: Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien, Katholisches Bibelwerk, 2002, S. 134

Maria und das Einhorn

Der Sagenkreis tut sich auf in Blau, Weiß und Gelb. Das wilde Tier, das Einhorn - „...ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell, und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten, stand wie ein Turm im Mond, das Horn so hell, ...“[1] - flieht, getrieben von Gabriel, dem Jagenden, dem Engel, in den Schoß der Jungfrau. Das Horn des Tieres entspringt der Stirn, dem Sitz des Geistes. Es ist das Symbol gewandelter sexueller Kraft, und Sinnbild jungfräulicher Reinheit und Keuschheit. Das Einhorn wird durch seine Unnatürlichkeit zur Allegorie für die das Naturgesetz durchbrechende Mutterschaft Marias.

Mit dem Bild greife ich eine allegorische Darstellung der Verkündigung an Maria aus dem späten Mittelalter auf. Der Reiz märchenhafter Sinnbilder drängt mich zur Gestaltung. Marias Antlitz ist ins imaginäre Blau entrückt. Das blendende Weiß, als unfaßbarer Ursprung, dringt in den Schoß der Frau, der im Gelb-Licht erstrahlt. Andeutungen von Vegetation verweisen auf den „verschlossenen Garten“, in dem sich das große Verwandlungswerk mythisch abspielt.

[1] Rainer Maria Rilke, Das Einhorn, Insel Bücherei Nr. 400, Leipzig 1946, S. 25